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Immer wieder Krimis

von Irina Kessler

Als ich neulich auf die Frage, was ich gerade lese, wieder mit „Krimi“ antwortete, kam ich ins Denken. Seit zwei Jahren ist das meine Standardantwort. Und das, obwohl ich nie eine passionierte Krimileserin war. Ich habe den Tatort geschaut und ich schaue Serien, unter denen auch Krimis sind. Aber sie zu lesen, das ist neu. Eher habe ich „Krimifans“ etwas belächelt und das Genre als „oberflächlich“ abgetan. Was ist da los?

Passiert ist, dass die Nächte lang wurden und ich dauermüde war und mich auf nichts konzentrieren konnte. Es gingen nur Krimis. Weil ich immer neues Futter brauchte, kam ich ein bisschen herum in diesem Genre – und auf besagte Frage ein wenig ins Grübeln darüber, worin diese ungebrochene Faszination besteht. Sie betrifft ja nicht nur mich, sondern auch den Rest der Welt, wenn man sich die Bestsellerlisten so anschaut.

Neben der Tatsache, dass sie eben immer gehen, wenn nichts anderes geht (weil Hochliterarisches zu literarisch, schön oder zu depressiv ist und Heiteres nicht auszuhalten), sind Krimis spannend genug, um dranzubleiben. Und zwar auch, wenn die Augen zufallen und der Kopf nicht mehr funktionieren mag.  Zunächst einmal scheint dieses Dranbleiben erstaunlich, weil der Plot bekanntlich vorhersehbar ist: Eine Person hat eine andere Person umgebracht, es gibt also eine Leiche (oder auch nicht) und Ermittler kümmern sich jetzt darum. Das konsumieren wir, am laufenden Band.

Man könnte Krimis daher für leichte Unterhaltung halten, was ja oft auch stimmt. Zudem könnte man sie für ein neues Phänomen halten, weil sie zuverlässig in den Bestsellerlisten erscheinen, die großen Büchertische in den Buchhandlungen dominieren und jeder etwas dazu zu sagen hat. Tatsächlich aber reichen die Wurzeln der Kriminalliteratur bis in die Antike zurück, und der Hang zum Psychologischen findet sich schon bei Schiller. Wir sind davon schon sehr lange fasziniert und mögen sie aus vielerlei Gründen.

Fakt ist, ein Krimi ist viel mehr als eine Leiche und die Geschichte einer Mordaufklärung. Es geht um Themen wie Schuld, Sühne, Gerechtigkeit und die Frage, was einen Menschen dazu bringt, einen Mord zu begehen. Der Krimi beleuchtet sozusagen die grundlegendsten Fragen des Menschseins und der Gesellschaft.

Das kann in sehr unterschiedlichen Formen stattfinden und bietet so viele Blickwinkel, um etwas zu erzählen. Eine Leiche, ein Täter, eine Schuld: Was sind die Motive? Welche Hintergründe haben zu der Tat geführt? War es eine persönlich motivierte Tat? Gier, Niedertracht, Rache? In welchem sozialen Umfeld spielte sie sich ab und inwieweit wirkte sich das Umfeld auf sie aus? Wie war die Täterstruktur? Wo spielt der Krimi? Gibt es einen regionalen Bezug? Und was für ein Typ ist der Ermittler – ein Polizist, Detektiv, Agent oder eine Privatperson? Das sind alles Fragen, die den Aufbau und das Genre bestimmen. Und der Krimi ist die Spielwiese, um ihnen nachzugehen.

In den amerikanischen Hardboiled Detective Novels oder den in Europa entstandenen Roman Noirs sind es neben dem gesellschaftskritischen Bezug vor allem die Ermittler, die das Genre prägen: harte, einsame Typen, selbst Außenseiter und oft aus demselben Umfeld wie die Täter. Die Möglichkeiten, um die Geschichte eines Mordes und seiner Aufklärung zu erzählen, sind fast unendlich, und das spiegelt sich wider auf dem Buchmarkt mit all den Genres, Subgenres und Mischformen.

Fans von Regionalkrimis lieben das Lokalkolorit, den Dialekt und die Beschreibungen regionaler Besonderheiten bis hin zur Kauzigkeit. Letzteres mündet oft in den wunderbar abgründigen Krimis, in denen die schlimmsten Verbrechen in der ländlichen Abgeschiedenheit hinter sauberen Gardinen und glatt gewienerten Fenstern stattfinden, wo alle etwas wissen und keiner etwas sagt.

Schon Poe drang gerne tief in die Psyche eines Täters vor und gab uns Einblicke ins Persönliche, Abgründige, Unvorstellbare. Wir lieben das noch heute. Wir ergründen die Untiefen schizophrener Serientäter, narzisstisch geprägter Morde und erweiterter Suizide. Wem das zu düster ist, der schmökert in perfekt konstruierten Agententhrillern oder in humoristisch angehauchten Polizeikrimis.

Krimis, die Liebesgeschichten enthalten, Ermittler mit persönlichen Problemen, literarische bis hin zu poetischen Krimis, es gibt sie alle. Und jetzt, da ich weiß, warum ich Krimis mag, belächele ich sie überhaupt nicht mehr. Ich mag die Spielarten des Genres und die Geschichten, die sich hinter den Morden verbergen und mache mich lieber auf, noch viel mehr von ihnen zu entdecken und zu lesen. Und vielleicht hier wieder davon zu berichten.

Bis dahin gibt es hier eine Liste meiner liebsten Charaktere:

Cormoran Strike, Detektiv aus der Reihe von Robert Galbraith

Afghanistan-Veteran, immer am Rande des Ruins, furchtlos, akribisch und mit Schlag bei den Frauen.

Violette Retancourt, Leutnant aus der Adamsberg-Reihe von Fred Vargas

Stoisch, hochkompetent, Adamsbergs Geheimwaffe in aussichtslosen Situationen und von ihm als Göttin bezeichnet. Wird oft unterschätzt aufgrund ihrer korpulenten Figur und ihrer Zurückgenommenheit.

Quentin P., Protagonist in Joyce Carol Oates’ „Zombie“

Der schlimmste Serienkiller und Psychopath, den man sich vorstellen kann. Sozusagen der Prototyp aller Psychopathen. Wenn man „Zombie“ gelesen hat, braucht man kein anderes Serienkiller-Buch. Es war zu schlimm, um es fertig zu lesen.

Paul West, Protagonist in „Driver“ von Tom Sallis

Einsam, immer auf der Flucht in seinem Auto, das schneller ist als die der anderen. Die, die er liebt, sterben. Und die, die ihn verfolgen ebenfalls.

Erik, Figur in „Risiko“ von Alexa Hennig von Lange

Bildhauer, unterwirft seine Kinder einem Überlebenstraining, das grotesk anmutet und sich leitmotivisch durch den Roman zieht – bis sich es sich am Ende auf der Flucht vor der bösen Hexe als überlebensnotwendig erweist.